...seit 1865 ambitionierte Kulturarbeit

Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung


Einleitende Worte bei der Eröffnung der Ausstellung "Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung" am 14. September 2015 im Foyer des Rathauses Wiesbaden, gesprochen von Holger Schlosser


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,


wie bei anderer Gelegenheit schon einmal erwähnt, singen hierzulande derzeit rund vier Millionen Menschen jeden Alters in Amateur-Chören verschiedenster Prägung, damit mehr denn je. Kenner der Szene stimmen mit mir darin überein, dass die Historie der deutschen Chorbewegung für die weitaus meisten dieser Brüder und Schwestern im Geiste "unbekanntes Terrain" ist. Insoweit unterscheidet man sich nicht von den verbleibenden 77 Millionen Bundesbürgern.  



Das hat – beginnend mit den 1960ziger Jahren – zu weit verbreiteten Vorurteilen über Wesen und Wirken von Chorgründungen des 19. Jahrhunderts und dann auch zu einem Massensterben vormals weithin gerühmter Chöre geführt.  


Hinzu kommt, dass besagte Vorurteile von mehr schlecht als recht überlebenden Traditionschören zuweilen noch bedient werden. So konnte man kürzlich in der Einladung zum Jubiläumskonzert eines ehemaligen musikalischen Aushängeschildes lesen.


"(Unser Chor) wäre für seine Gründerväter nicht wiedererkennbar. Singen im Chor hat sich spürbar verändert. Um das ist gut so!"


Was vermutlich nur als Hinweis auf seine Hinwendung auf Cover-Versionen von Hits aus der Schlagerparade gemeint war, nährt nolens volens Fehl- und Vorurteile. Das Fehlurteil, der interaktive Prozess "Singen im Chor" hätte sich im Sinne einer Verbesserung verändert und das Vorurteil, nach wie vor klassisches Repertoire pflegende Chöre seien nicht mehr angesagt. 


Für den Deutschen Chorverband im Vorfeld seines 2012 anstehenden 150jährigen Jubiläums Gründe genug gewesen, mit Prof. Dr. Friedhelm Brusniak und Prof. Dr. Dietmar Klenke zwei ausgewiesene Experten zu beauftragen, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Unterstützt wurden die beiden Wissenschaftler u.a. von Mitarbeitern der Stiftung "Dokumentations- und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens". 


Dabei herausgekommen ist u.a. die Ausstellung "Vom Freiheitskampf zur Freizeitbewegung", die im Rahmen des "Deutschen Chorfestes Frankfurt 2012" in der dortigen Paulskirche erstmals gezeigt wurde. Teilgenommen hatten an diesem Fest 20.000 großenteils jugendliche Sängerinnen und Sänger aus aller Welt. Die Gesamtbesucherzahl der insgesamt 600 Einzelveranstaltungen wurde auf 200.000 geschätzt. 


Eine Abordnung unseres Chores gehörte zum Kreis derer, die vom DCV-Präsidium zur Auftaktveranstaltung in die Paulskirche eingeladen waren. Selbstverständlich hatten wir uns bei der Gelegenheit auch die besagte Ausstellung angeschaut.


Beim Studium der 10 Thementafeln waren uns zahlreiche Parallelen zu historischen Entwicklungen im eigenen Chor aufgefallen, insbesondere unter den Stichworten "Freiheitskampf" und "Öffnung für die Gesangskultur anderer Nationen".


Wussten wir doch um das Eintreten unserer republikanisch gesinnten Vereinsgründer für Freiheitsrechte und nationale Einheit. Ebenso um die Abneigung nachfolgender Generationen, ihre musikalischen Ambitionen parteipolitisch vereinnahmen zu lassen.


 


Diesen tradierten Grundhaltungen verpflichtet und nostalgischen Ritualen ebenso abhold wie kurzatmigen Moden, hatten Dirigent, Vorstand und Sänger zu Anfang der 1980ziger Jahre Chor und Verein zukunftsfähig gemacht. Die Teilnahme am internationalen Kulturaustausch war eine sich geradezu aufdrängende Konsequenz.


Bei Begegnungen mit Ensembles aus dem damaligen Ostblock und aus südafrikanischen Homelands wurde uns in beklemmender Weise bestätigt, dass außermusikalische Zielsetzungen in Chören - wie das Streben nach Freiheitsrechten und nationaler Eigenständigkeit -  kein Schnee von gestern ist.    


Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einen aktuellen Bezug herstellen: Unser aufrichtiges Interesse an Geschichte und Kultur ausländischer Kooperationspartner sowie die denen in Wiesbaden entgegengebrachte private Gastfreundschaft öffnete uns vielerorts Herzen und Türen. Wenn man so will, eine wechselseitige "Willkommenskultur" auf privater Ebene, die in Zeiten der Massenflucht vor Krieg, Völkermord und bitterster Armut notwendiger ist denn je.


 


Meiner sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,


wie Sie beim Gang durch die Ausstellung sehen werden, haben wir bei allen Thementafeln des Deutschen Chorverbandes "angedockt".  Dabei mussten wir uns naturgemäß in der Kunst des Weglassens üben. Was sich angesichts der Fülle korrespondierenden Archivmaterials als eher schwierig erwies. Was also soll diese "Jubiläumsausstellung im Doppelpack" zeigen?


Sie soll zeigen, dass Chormusik weit mehr bewirken kann, als die Steigerung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens singender Individuen.  


Sie soll zeigen, dass es sich angesichts historischer Fakten einerseits und gegenwärtiger Praxisbeispiele andererseits verbietet, das Wesen und Wirken von Chorgründungen des 19. Jahrhunderts pauschal als anachronistisch abzutun.  


Sie soll zeigen, dass Singen in der Gemeinschaft ein dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenes menschliches Grundbedürfnis ist, das in dem Maße Früchte trägt, wie es sich ideologischem Missbrauch entziehen und frei entfalten kann. 


 


 


 

1865-2015 | 150 Jahre »Gemüthlichkeit«

Das Jubiläumsjahr 2015

In unseren Veröffentlichungen aus dem Jubiläumsjahr 2015 finden Sie allerlei Informationen zur Geschichte unseres Chores.


Festansprache zur "Gala erfrischend anders" am 25. April 2015 - gehalten von

Margarethe Goldmann, vormals Kulturdezernentin der Landeshauptstadt Wiesbaden


Sehr geehrter Herr Schlosser, Herr Wittgen,

meine Herren Sänger des Jubelchores und Damen von arSoni, liebe Festgemeinde,


ich bin gebeten worden, mit Ihnen heute Abend einen Spaziergang durch die 150jährige Chorgeschichte zu unternehmen. Ich hoffe, es wird keine Nachtwanderung, denn ich bin weder Historikerin noch Pfadfinderin.  


„Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen“ – das ist ein Satz des jüdischen Philosophen Theodor Lessing, in den 20er Jahren Professor in Hannover, später Opfer der Nationalsozialisten. Was meint dieser Satz? Was wir sehen und feststellen, ist immer das Ergebnis unserer Interpretation.


Sie merken, ich mache diese Vorrede, um Ihnen eigentlich mitzuteilen, dass ich erst einmal einen Ansatz gesucht habe, um die spontan übernommene Einladung, hier zu sprechen, nun auch sinngebend zu gestalten. Ich gehe also so mit Ihnen in der Vereinsgeschichte spazieren wie mancher, der noch selten im Hochgebirge unterwegs war, aber die großen Aussichten liebt. 


Also beginne ich meinen Weg im Jahr 1865: Wiesbaden ist ein bezaubernder Ort, an dem vor allem das Besondere leuchtet: die bisherige Bautätigkeit und eine ambitionierte Stadtplanung haben Villen und Parks „mit der Phantasie eines Landschaftsmalers“ zu einem großen Landschaftspark verschmolzen. Reiche, gebildete, gut gekleidete Menschen, Rentiers, Millionäre, Adlige legen hier ihr Geld an und/oder sind wochenlang zu Gast, genießen das Leben, - „ruhen aus von der Langeweile ihrer Heimat“ (so las ich es wörtlich) – das im Amüsement und gesellschaftlichen Flair des Badebezirks, in Badehäusern, Gesellschaftssalons, im Kurhaus, unterhalten von Konzerten und Theaterabenden. Der Kurbetrieb ist der einer Weltkurstadt – mondän, elegant, amüsant.


Sonnenberg ist selbständig, noch kein eingemeindeter Vorort von Wiesbaden, aber im Kalkül der Stadt doch verplant: gedacht als eine Ausflugsstätte für Spaziergänge – die Stadt geht in das Landleben über. Der „Verein zur Verschönerung der Umgebung von Wiesbaden“ hat den pittoresken Promenadenweg vom Kurgebiet zur Burg Sonnenberg mit Baumgruppen, schattigen Bänken entlang des Baches entworfen und finanziert.   


In Sonnenberg wohnen hessische Einheimische, Handwerker, Selbständige. Hier muss gearbeitet werden, um zu leben. Hier profitiert man vom Aufschwung der Stadt, denn der Bau und die Pflege der Häuser in der Stadt, die Ansiedlung von Versicherungen Banken und vielen weiteren Gewerben schafft Arbeit. Viel Arbeit und vielleicht auch gutes Geldverdienen, denn die Stadt boomt. 


Warum gründen 18 Sonnenberger im Spätsommer 1865 nun aus ihrem Turnverein heraus einen Gesangverein und nennen ihn „Gemüthlichkeit“? Dass Gesangvereine aus Turnvereinen heraus gegründet wurden, war damals durchaus sehr üblich, denn das vaterländische Singen wurde auch beim Sport gepflegt. In Sonnenberg scheint es im Turnverein aber darüber hinaus einen Konflikt gegeben zu haben, der die Ausgründung vorantreibt. 


In den Statuten des Sonnenberger Vereins heißt es: „Zweck des Vereins ist Ausbildung des Männergesangs. (Aktives) Mitglied kann jeder unbescholtene Mann werden, der das 18. Lebensjahr erreicht hat, sich der geheimen Abstimmung unterwirft und von dem Dirigenten für singfähig erklärt wird.“  


Damit ist bereits ein Programm vorgegeben, das den Verein bis heute trägt: Singfähigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit und Anerkennung musikalischer Autorität und Qualität. 


Es nimmt daher nicht Wunder und ist dennoch beachtlich, dass noch vor Verabschiedung der Statuten beschlossen wurde, einen Flügel anzuschaffen. Außerdem wird damit auch deutlich, dass dieser Verein nicht von Männern der Unterschicht getragen wird, sondern von Menschen, die auch bereit und in der Lage sind, Geld zu investieren. 


Warum dieser Name?  Die Geschichtsschreibung des Vereins sagt: „Die heute spießig anmutende Namenswahl der Gründer erklärt sich aus der damaligen Großwetterlage. Man erinnere sich an den Kampf um demokratische Rechte und nationale Einheit, um Volksbildung und Teilhabe an Kunst und Kultur, an polizeiliche Überwachung und Vereinsverbote, an Kerkerhaft und Verbannung. … Gesangvereine verschleierten ihr Aufbegehren gegen Fürstenwillkür und Kleinstaaterei mit verharmlosenden Namensgebungen wie z.B. Frohsinn, Heiterkeit und Gemütlichkeit“. 

 

Ich möchte dieser Interpretation die Frage hinzufügen, ob man den Namen nicht auch als Ausdruck des Wunsches nach echter Gemütlichkeit gegen eine als fremd und ungemütlich empfundene Kurstadtatmosphäre gewählt hat? Ist das mondäne Kurstadtleben nicht anstrengend? Immer muss man gebildet und vermutlich auch hochdeutsch sprechen, distinguierte kulturelle Codes (Dress-Codes) sorgen dafür, dass man nicht dazu gehört? Wirtschaftlicher Boom bedeutet auch, im Wirtschaftsleben des Alltags harte Konkurrenzverhältnisse auszuhalten. 


Dann doch auch dafür sorgen, dass man mit den Freunden aus dem Sportverein, dem Karnevalsverein, mit Sangesfreunden aus anderen Vereinen der Umgebung Spaß haben kann! Und damit Selbstbewusstsein dokumentieren – Kultur gemeinsam, sozusagen „von unten“ entwickeln? Frei sein, selber entscheiden, die eigene Familie mit einbeziehen können, dabei auch etwas leisten, eigene Wettbewerbe austragen, eigene Qualitäten entwickeln - und dazu einem Leitbild der Mannhaftigkeit entsprechen, das zum Unterbau damaliger rechts und links verbreiteter deutscher Nationalgesinnung gehört: Treue, Gemeinschaftssinn, Pflichtbewusstsein, Opfersinn, Fleiß, Ehrlichkeit, Leistungsdenken, Tatkraft und Natürlichkeit. 


Es gab in den Männergesangvereinen zu dieser Zeit ein starkes Bedürfnis nach moralisch überzeugender und zukunftsträchtiger Gemeinschaftlichkeit (Quelle: Dietmar Klenke, "Der singende deutsche Mann“). 


Drei Jahre nach Gründung und schon Verdoppelung der Sängerzahl ist die eigene Fahne entworfen, von den Sängerfrauen genäht, gestickt und wird geweiht. Dieses Ritual bringt eine „quasi kunstreligiöse Überhöhung der Gemeinschaft der Männerchorsänger zum Ausdruck“ (so drückt sich die historische Fachliteratur aus) und unterstreicht die Bedeutung, die sich – wie viele andere Männergesangvereine auch – der Gesangverein Gemüthlichkeit gibt. Unter der Fahne wird der Eid geschworen, „jederzeit treu zu ihr und zueinander zu stehen.“… „Einigkeit macht stark“ – mögen diese Worte Widerhall finden überall wo deutsches Volk sich zu edlen Taten verbunden hat, mögen diese Worte himmlische Bedeutung durch den Ton der Sänger erhalten.“  (So die Rede des damaligen Vorsitzenden zur Fahnenweihe)


Der Verein erlebt in den kommenden Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung: Künstlerisch wertvolle Konzerte, Unterhaltungsabende mit anderen Vereinen für die Sonnenberger Bevölkerung, erste Preise bei Gesangswettstreiten in der Region führen dem Verein viele neue Sänger und breite öffentliche Anerkennung zu. 1907 ist der Gesangverein einer der Spitzenchöre des Rhein-Main-Gebietes. Allein im zweiten Bass gibt es fünf Sängerreihen. 


Nach der Unterbrechung im ersten Weltkrieg wächst der Chor auf 128 Aktive an. 1928 nimmt er mit einer Fahnenabordnung am Deutschen Sängerbundesfest in Wien teil und ist sehr stolz darauf. Ich muss sagen, dass ich als Laiin sehr beeindruckt war von dem, was ich in der Chronik dieses Treffens gelesen habe. 


200.000 Sänger aus allen Teilen des deutschen Reichs und Österreichs versammeln sich in Wien, der größte Teil von ihnen wird privat untergebracht. Das Fest imponiert mit einer eigens dafür für 1 Million Mark errichteten Festhalle auf dem Pratergelände (eine Holzkonstruktion mit 182 x 100 m), mit einer Bühne für - sage und schreibe - 40.000 Sänger und einem riesigen Festprogramm, an dem höchste österreichische und deutsche Minister und Regierungsvertreter teilnehmen. Wahrlich ein Event! 


Wenn man allerdings die dort gehaltenen Festreden, insbesondere des Vorsitzenden des DSB Herrn RA Dr. List nachliest, wird einem aus heutiger Sicht ganz anders: „Unsere Seele dürstet nach einem Großdeutschland, aber unser Verstand sagt uns, dass wir es nicht erzwingen, dass wir nur Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns unterziehen, mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede fließt; ringen wollen wir um die Seele des deutschen Volkes, hinein singen wollen wir in die Herzen aller Deutschen den Gedanken von dem einigen, großen deutschen Vaterlande usw. … Das große deutsche Vaterland, dass wir ersehnen und erstreben, und sein Wegbereiter das deutsche Lied! Heil! Heil! Heil!!“ …Und die Festschrift endet mit den Worten: „Wie die Wolken des Weihrauchs, so schwebt die Erinnerung an ein hohes Fest im Herzen jedes einzelnen der Pilger…Der Altar aber, um den diese Wolken wallen, ist die Liebe zur deutschen Scholle, ist das hehre heilige Gefühl der Zusammengehörigkeit derer, die deutschen Wesens sind.“ 


So überrascht es in der Folgezeit nicht, dass die Nationalsozialisten im Sängermilieu eine Stütze finden konnten – betonen will ich aber ausdrücklich, dass von den radikalnationalistischen Zukunftsplänen der NS-Führung kaum etwas bis zu den Sängern durchgedrungen sein dürfte, denn Welteroberungsphantasien und Rassenwahn waren ihnen fremd. So wurden - kurz, vielleicht zu kurz formuliert - die Vereine und ihre Mitglieder in vielfältiger Weise zu Opfern der NS-Herrschaft und des Krieges. 


Das Ende des zweiten Weltkriegs markierte einen Einschnitt, der in der Vereinschronik – wie auch schon das Vereinsleben in der NS-Zeit - nur dürftig beschrieben wird. Man gewinnt den Eindruck, dass der Verein 1945 einfach weitermacht – wie in allen Jahrzehnten vorher und anlässlich der 90-Jahrfeier im Juli 1955 lobt Oberbürgermeister Dr. Mix im Geleitwort die „Verdienste für das deutsche Lied“ – als hätte die nationale Ausrichtung keinen Schaden angerichtet. Auch der Vereinsvorsitzende Karl Geist ruft in der Festschrift zum 90jährigen Jubiläum zu einem flammenden Bekenntnis „unserer „immerwährenden Liebe und Treue“ zum „Deutschen Lied“ und zur Heimat als Allgemeingut unseres Volkes auf.  


Ich weiß, so hat man damals gesprochen, aber dies zeigt doch uns Heutigen, wie wenig Reflexion über Fragen der Kontinuität und des notwendigen Bruchs mit Traditionen und Sprache als Kulturgütern geübt wurde. (Man lese hierzu Viktor Klemperers (Bruder des bekannten Dirigenten Otto Klemperer, bis 1933 Professor für französische Sprache in Dresden) Erinnerungen als Bewohner eines Judenhauses in Dresden und vor allem sein Buch Lingua tertii imperii – über die Sprache des dritten Reichs.) 


Ich will an dieser Stelle aber auch mitteilen, dass in diesen Jahren der Verein  – „in bewährter Weise“  - das sage ich mit einem etwas mokanten Unterton – mit besten Plätzen bei Wertungssingen, einem vielfältigen Konzertprogramm nicht nur in Sonnenberg, Einladungen von und zu zahlreichen Freundschaftssingen und anderen Vereinsfesten wie auch beim neu gegründeten Deutschen Sängerbund glänzt und 1953 sogar ein eigener Knabenchor ins Leben gerufen wird.  


Aber mit einem einfachen „Weiter so!“ ist doch die Zukunft des Männergesangvereins nicht zu gewinnen: 


Ab Mitte der 50er Jahre, dynamisch zunehmend ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre geht es mit der Sängerzahl schwer bergab. Kein Wunder – denn die Begeisterung der jungen Generation für die anglo-amerikanische Rock`n-Roll-, Beat- und Popkultur ließ die Männerchöre altbacken, steif, ja geradezu lächerlich erscheinen. Der vaterländische Geist, den viele Ältere nach wie vor pflegen, wird von den Jungen kritisiert, die Fragen, die im Zuge der 68er-Bewegung nicht nur von Studenten gestellt werden, stoßen – wie überall - auf hartnäckiges Schweigen und Missmut. 


Waren die Männergesangvereine ursprünglich Träger einer bürgerlichen Freiheitsbewegung, so erschienen sie den Jungen nun als Stützen einer moralisch völlig diskreditierten Politikbewegung. Die älteren Sänger berauschen sich mit ihren Erinnerungen an glanzvolle Sängerzeiten und legen eine hohe Genügsamkeit an den Tag, was die Gestaltung der Jetztzeit anbetrifft. Der Verein verliert Mitglieder und gewinnt ab Mitte der 70er Jahre keine neuen hinzu. Es war rechnerisch absehbar, wann er zu Grabe getragen werden würde. 


Was also tun?


Hier kommt die neue Generation zu Hilfe: Mit Klaus Ochs wird 1974 ein außergewöhnlich musikalischer Chorleiter, ein hervorragender Musikpädagoge verpflichtet - und der Erfolg stellt sich langsam ein. 


Ein junger, gut gebildeter Vorstand bedient sich des eigenen Know-hows, erworben in verschiedenen Berufsfeldern, umgesetzt nun für den Verein in ein sicheres und flexibles modernes „Kulturmanagement“ (damals kannte das Wort noch niemand!), ausgestattet mit einem Talent zu allen Formen der Stärkung von Public Relations – von dem wir heute Abend ja auch profitieren.  


Neue junge Sänger machen mit, das Repertoire wird modernisiert - ohne auf musikalische Tradition zu verzichten. 


Eine musikalische Bestandsaufnahme des sängerischen Vermögens der einzelnen Sänger wird vereinbart – und durchgeführt. Mancher muss schmerzlich und sicherlich auch ärgerlich erkennen, dass er als förderndes Mitglied den Verein besser unterstützen kann. 


Der Verein macht sich Schritt für Schritt mit Konzertreisen in Partnerstädte z.B. Ljubljana und Klagenfurt einen Namen und ist Gastgeber für Chöre aus diesen Städten sowie aus Israel und Spanien. 


Die internationalen Chorreisen sollte man sich nicht als schöne Ausflüge, Urlaub besonderer Art vorstellen, denn sie verlangen den Sängern finanziell, künstlerisch und menschlich-politisch einiges ab: Die Sänger werden mit Musikhaltungen und Deutschlandbildern konfrontiert, die auch die eigene Werte in Frage stellt und verändert. 


Aber genau dafür, Wege zur Völkerverständigung und zur eigenen Weiterentwicklung zu suchen, begeistern sich die Sänger und ihre Familien, die bei der Gelegenheit auch mal erwähnt werden müssen.        


Nicht nur, aber auch in diesem internationalen Kontext wird der Name des Gesangvereins „Gemütlichkeit“ zur Belastung, denn er referiert auf eine politische Traditionslinie, die zu Recht oder Unrecht in den Augen vieler, die die Geschichte im groben Raster betrachten, diskreditiert ist. Es dauert allerdings Jahre, bis endlich 1987 die Namensänderung zu "Männerkammerchor Wiesbaden-Sonnenberg e.V." vollzogen wird. 


Der letzte Anstoß, der dazu führte, war das schockierende Erlebnis, dass aufgrund des Namens bei einer Konzertreise nach Israel dem Sonnenberger Chor 1986 bei der 14. Welt-Chorbegegnung „Zimriya“ – ausgerichtet von der von uns allen geliebten Ilana Barnea (Gott hab sie selig!)  -  auf dem Berg Zion bei Jerusalem durch den deutschstämmigen Prior der Auftritt verweigert wurde. Der Chor war übrigens – auch das ist interessant zu wissen - in der Tat der bisher erste herkömmliche deutsche Männerchor in Israel, in dessen Reihen seinerzeit auch noch Weltkriegs-II-Teilnehmer standen.  


Also: Eine schwierige Zeit für diejenigen, die den Verein bewegen und in die Zukunft führen wollen. Das alles geschieht ja nicht emotionslos - ganz im Gegenteil - es fliegen die Fetzen, Intrigen werden geschmiedet, Gerüchte verbreitet, heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen geführt. Die Chronik zum 125jährigen Bestehen weiß davon ausführlich zu berichten. 


Aber: nur im Streit, im Konflikt entsteht ja Neues. Es kommt darauf an, wie fair und umsichtig man einen Konflikt bearbeitet. Ich habe vor einigen Jahren eine Mediatoren-Ausbildung an unserer VHS absolviert. Seither sehe ich im Konflikt nicht den Gegner, sondern den Partner im Ringen um Veränderung. Das ist niemals ein Leichtes, aber doch so notwendig, um Akteur, Gestalter und nicht Opfer der Geschichte zu sein. 


Es wäre so vieles zu erwähnen – hier nur noch ein paar Informationen, die ich wichtig finde:  


1985 richtet der Chor eine erste große internationale Chorbegegnung in Wiesbaden aus. 1990 folgt die zweite, und fortan ist man Gast auf zahlreichen Bühnen der Welt sowie auch Gastgeber für Chöre aus der ganzen Welt. 1990 wird errechnet, dass die Sänger und ihre Familien aus eigener Tasche 400.000 DM für diesen Kulturaustausch investiert haben. 


1988 kann der Sonnenberger Verein im stadtteileigenen Konzertsaal auftreten, auch die räumliche Infrastruktur gehört zum Gelingen in der Kultur. 


1990 darf ich als Kulturdezernentin zum 125jährigen Jubiläum die goldene Stadtplakette überreichen. 


1993 erhält der Chor folgerichtig den Kulturpreis der Stadt Wiesbaden – nicht zuletzt für (damals schon) Kontakte zu 60 Solisten und Ensembles in 16 Nationen. 


1995: der so geschätzte und wichtige Klaus Ochs stirbt ganz unerwartet. Eine tragische Nachricht – auch für mich. 


Der Verein gewinnt mit Holger Wittgen, dem wir auch das musikalische Profil des heutigen Abends verdanken, einen neuen außergewöhnlichen Chorleiter, der die Geschicke der musikalischen Entwicklung bis heute überzeugend lenkt und neue, moderne Formate entwickelt, die beispielhaft in die Chorszene hineinwirken können. Ein Kulturmanager, der den Vorsitzenden und den Vorstand an seiner Seite weiß und mit ihm gemeinsam seit nunmehr 20 Jahren das Kulturprogramm gestaltet.   


Aber die Zeitreise ist noch nicht zu Ende. Die vorläufig letzte Wendung ist die nun auch förmlich besiegelte Zusammenarbeit mit arSoni Wiesbaden, dem Vokalensemble für Hohe Stimmen und eine nicht minder spektakuläre Änderung der Vereinssatzung: Neu ist der Satzungsrang für kulturelle Bildung unter fachkundiger Anleitung bei regelmäßigen Proben. Da ist sie noch, nun im modernen Gewand: Die Singfähigkeit, die schon vor 150 Jahren als Basis des Chores gefordert wurde. 


Für mich ist interessant festzustellen: Nicht die politische Ausrichtung des Vereins, sondern die künstlerische Qualität ist es, die der Garant für ein zukunftsfähiges Bestehen war und ist. 

Wir haben hier keine Zeit, dies als kulturpolitische These zu diskutieren, aber die Frage möchte ich stellen, ob wir nicht heute dabei sind, diesen Maßstab zu ignorieren, wenn nicht die Kunst, sondern Publikumsresonanz und Event-Charakter zu Erfolgsparametern von Kulturarbeit werden.      


An dieser Stelle möchte ich nun den Vorsitzenden Holger Schlosser nennen. Was hat der Chor mit ihm für einen großartigen Vorsitzenden:   verständig, engagiert, weitsichtig, konfliktfähig (und das bedeutet für mich sehr viel!), ja man kann sagen mit allen Tugenden des Mannhaften, wie man sie sich im 19. Jh. vorstellte, - ich wiederhole - Treue, Gemeinschaftssinn, Pflichtbewusstsein, Opfersinn, Fleiß, Ehrlichkeit, Leistungsdenken, Tatkraft und Natürlichkeit- ausgestattet.


Auch wenn er sich in seinen Texten und Veröffentlichungen immer wieder für sein vieles Schreiben und Argumentieren fast entschuldigt, ist das Erreichte doch wohl auch ganz sicher eben dieser Überzeugungsbereitschaft, weitsichtigen Argumentationen und dem erkennbaren Willen, die Vereinsmitglieder und die Öffentlichkeit an den ehrlichen Gründen für Entscheidungen teilhaben zu lassen, zu verdanken. Mut zur Transparenz könnte man diese moderne mannhafte Tugend nennen. 


Und den Vorsitz hat Herr Schlosser nun schon 34 Jahre inne (von 2000 bis 2010 als Zweiter Vorsitzender). Das ist ein Fünftel der 150 Jahre Vereinsgeschichte. Was für eine Leistung. Das sind schon jetzt große Fußstapfen, die Sie in der Vereinsgeschichte hinterlassen haben.    

 

Ich komme zum Ende: 


Ich gratuliere dem Chor und seinem Vorstand sowie dem Chorleiter zu einer Vereinsgeschichte, die bis heute von einem starken Bedürfnis nach moralisch überzeugender und zukunftsträchtiger Gemeinschaftlichkeit getragen wird. 


Ich bin bei meinem Spaziergang auf dem heutigen Gipfel angekommen und sehe die Weite und die Vielfalt der Berge und Täler, die von den Sängern durchwandert wurden und die alten und neuen Aussichten einer ungewöhnlich interessanten Vereinsgeschichte, die in diesem Jubiläumsjahr noch erfreulich ausführlich genossen werden kann. 


Ich habe noch einen Auftrag zu erledigen: Heute Nachmittag rief Achim Exner, bei mir an und bat mich, Ihnen seine herzlichen Grüße und Glückwünsche auszurichten. Das tue ich hiermit gerne.  


Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit. 




 




 





 




 

 





Festansprache zur "Gala erfrischend anders" am 25. April 2015 - gehalten von

Margarethe Goldmann, vormals Kulturdezernentin der Landeshauptstadt Wiesbaden


Sehr geehrter Herr Schlosser, Herr Wittgen,

meine Herren Sänger des Jubelchores und Damen von arSoni, liebe Festgemeinde,


ich bin gebeten worden, mit Ihnen heute Abend einen Spaziergang durch die 150jährige Chorgeschichte zu unternehmen. Ich hoffe, es wird keine Nachtwanderung, denn ich bin weder Historikerin noch Pfadfinderin.  


„Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen“ – das ist ein Satz des jüdischen Philosophen Theodor Lessing, in den 20er Jahren Professor in Hannover, später Opfer der Nationalsozialisten. Was meint dieser Satz? Was wir sehen und feststellen, ist immer das Ergebnis unserer Interpretation.


Sie merken, ich mache diese Vorrede, um Ihnen eigentlich mitzuteilen, dass ich erst einmal einen Ansatz gesucht habe, um die spontan übernommene Einladung, hier zu sprechen, nun auch sinngebend zu gestalten. Ich gehe also so mit Ihnen in der Vereinsgeschichte spazieren wie mancher, der noch selten im Hochgebirge unterwegs war, aber die großen Aussichten liebt. 


Also beginne ich meinen Weg im Jahr 1865: Wiesbaden ist ein bezaubernder Ort, an dem vor allem das Besondere leuchtet: die bisherige Bautätigkeit und eine ambitionierte Stadtplanung haben Villen und Parks „mit der Phantasie eines Landschaftsmalers“ zu einem großen Landschaftspark verschmolzen. Reiche, gebildete, gut gekleidete Menschen, Rentiers, Millionäre, Adlige legen hier ihr Geld an und/oder sind wochenlang zu Gast, genießen das Leben, - „ruhen aus von der Langeweile ihrer Heimat“ (so las ich es wörtlich) – das im Amüsement und gesellschaftlichen Flair des Badebezirks, in Badehäusern, Gesellschaftssalons, im Kurhaus, unterhalten von Konzerten und Theaterabenden. Der Kurbetrieb ist der einer Weltkurstadt – mondän, elegant, amüsant.


Sonnenberg ist selbständig, noch kein eingemeindeter Vorort von Wiesbaden, aber im Kalkül der Stadt doch verplant: gedacht als eine Ausflugsstätte für Spaziergänge – die Stadt geht in das Landleben über. Der „Verein zur Verschönerung der Umgebung von Wiesbaden“ hat den pittoresken Promenadenweg vom Kurgebiet zur Burg Sonnenberg mit Baumgruppen, schattigen Bänken entlang des Baches entworfen und finanziert.   


In Sonnenberg wohnen hessische Einheimische, Handwerker, Selbständige. Hier muss gearbeitet werden, um zu leben. Hier profitiert man vom Aufschwung der Stadt, denn der Bau und die Pflege der Häuser in der Stadt, die Ansiedlung von Versicherungen Banken und vielen weiteren Gewerben schafft Arbeit. Viel Arbeit und vielleicht auch gutes Geldverdienen, denn die Stadt boomt. 


Warum gründen 18 Sonnenberger im Spätsommer 1865 nun aus ihrem Turnverein heraus einen Gesangverein und nennen ihn „Gemüthlichkeit“? Dass Gesangvereine aus Turnvereinen heraus gegründet wurden, war damals durchaus sehr üblich, denn das vaterländische Singen wurde auch beim Sport gepflegt. In Sonnenberg scheint es im Turnverein aber darüber hinaus einen Konflikt gegeben zu haben, der die Ausgründung vorantreibt. 


In den Statuten des Sonnenberger Vereins heißt es: „Zweck des Vereins ist Ausbildung des Männergesangs. (Aktives) Mitglied kann jeder unbescholtene Mann werden, der das 18. Lebensjahr erreicht hat, sich der geheimen Abstimmung unterwirft und von dem Dirigenten für singfähig erklärt wird.“  


Damit ist bereits ein Programm vorgegeben, das den Verein bis heute trägt: Singfähigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit und Anerkennung musikalischer Autorität und Qualität. 


Es nimmt daher nicht Wunder und ist dennoch beachtlich, dass noch vor Verabschiedung der Statuten beschlossen wurde, einen Flügel anzuschaffen. Außerdem wird damit auch deutlich, dass dieser Verein nicht von Männern der Unterschicht getragen wird, sondern von Menschen, die auch bereit und in der Lage sind, Geld zu investieren. 


Warum dieser Name?  Die Geschichtsschreibung des Vereins sagt: „Die heute spießig anmutende Namenswahl der Gründer erklärt sich aus der damaligen Großwetterlage. Man erinnere sich an den Kampf um demokratische Rechte und nationale Einheit, um Volksbildung und Teilhabe an Kunst und Kultur, an polizeiliche Überwachung und Vereinsverbote, an Kerkerhaft und Verbannung. … Gesangvereine verschleierten ihr Aufbegehren gegen Fürstenwillkür und Kleinstaaterei mit verharmlosenden Namensgebungen wie z.B. Frohsinn, Heiterkeit und Gemütlichkeit“. 

 

Ich möchte dieser Interpretation die Frage hinzufügen, ob man den Namen nicht auch als Ausdruck des Wunsches nach echter Gemütlichkeit gegen eine als fremd und ungemütlich empfundene Kurstadtatmosphäre gewählt hat? Ist das mondäne Kurstadtleben nicht anstrengend? Immer muss man gebildet und vermutlich auch hochdeutsch sprechen, distinguierte kulturelle Codes (Dress-Codes) sorgen dafür, dass man nicht dazu gehört? Wirtschaftlicher Boom bedeutet auch, im Wirtschaftsleben des Alltags harte Konkurrenzverhältnisse auszuhalten. 


Dann doch auch dafür sorgen, dass man mit den Freunden aus dem Sportverein, dem Karnevalsverein, mit Sangesfreunden aus anderen Vereinen der Umgebung Spaß haben kann! Und damit Selbstbewusstsein dokumentieren – Kultur gemeinsam, sozusagen „von unten“ entwickeln? Frei sein, selber entscheiden, die eigene Familie mit einbeziehen können, dabei auch etwas leisten, eigene Wettbewerbe austragen, eigene Qualitäten entwickeln - und dazu einem Leitbild der Mannhaftigkeit entsprechen, das zum Unterbau damaliger rechts und links verbreiteter deutscher Nationalgesinnung gehört: Treue, Gemeinschaftssinn, Pflichtbewusstsein, Opfersinn, Fleiß, Ehrlichkeit, Leistungsdenken, Tatkraft und Natürlichkeit. 


Es gab in den Männergesangvereinen zu dieser Zeit ein starkes Bedürfnis nach moralisch überzeugender und zukunftsträchtiger Gemeinschaftlichkeit (Quelle: Dietmar Klenke, "Der singende deutsche Mann“). 


Drei Jahre nach Gründung und schon Verdoppelung der Sängerzahl ist die eigene Fahne entworfen, von den Sängerfrauen genäht, gestickt und wird geweiht. Dieses Ritual bringt eine „quasi kunstreligiöse Überhöhung der Gemeinschaft der Männerchorsänger zum Ausdruck“ (so drückt sich die historische Fachliteratur aus) und unterstreicht die Bedeutung, die sich – wie viele andere Männergesangvereine auch – der Gesangverein Gemüthlichkeit gibt. Unter der Fahne wird der Eid geschworen, „jederzeit treu zu ihr und zueinander zu stehen.“… „Einigkeit macht stark“ – mögen diese Worte Widerhall finden überall wo deutsches Volk sich zu edlen Taten verbunden hat, mögen diese Worte himmlische Bedeutung durch den Ton der Sänger erhalten.“  (So die Rede des damaligen Vorsitzenden zur Fahnenweihe)


Der Verein erlebt in den kommenden Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung: Künstlerisch wertvolle Konzerte, Unterhaltungsabende mit anderen Vereinen für die Sonnenberger Bevölkerung, erste Preise bei Gesangswettstreiten in der Region führen dem Verein viele neue Sänger und breite öffentliche Anerkennung zu. 1907 ist der Gesangverein einer der Spitzenchöre des Rhein-Main-Gebietes. Allein im zweiten Bass gibt es fünf Sängerreihen. 


Nach der Unterbrechung im ersten Weltkrieg wächst der Chor auf 128 Aktive an. 1928 nimmt er mit einer Fahnenabordnung am Deutschen Sängerbundesfest in Wien teil und ist sehr stolz darauf. Ich muss sagen, dass ich als Laiin sehr beeindruckt war von dem, was ich in der Chronik dieses Treffens gelesen habe. 


200.000 Sänger aus allen Teilen des deutschen Reichs und Österreichs versammeln sich in Wien, der größte Teil von ihnen wird privat untergebracht. Das Fest imponiert mit einer eigens dafür für 1 Million Mark errichteten Festhalle auf dem Pratergelände (eine Holzkonstruktion mit 182 x 100 m), mit einer Bühne für - sage und schreibe - 40.000 Sänger und einem riesigen Festprogramm, an dem höchste österreichische und deutsche Minister und Regierungsvertreter teilnehmen. Wahrlich ein Event! 


Wenn man allerdings die dort gehaltenen Festreden, insbesondere des Vorsitzenden des DSB Herrn RA Dr. List nachliest, wird einem aus heutiger Sicht ganz anders: „Unsere Seele dürstet nach einem Großdeutschland, aber unser Verstand sagt uns, dass wir es nicht erzwingen, dass wir nur Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns unterziehen, mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede fließt; ringen wollen wir um die Seele des deutschen Volkes, hinein singen wollen wir in die Herzen aller Deutschen den Gedanken von dem einigen, großen deutschen Vaterlande usw. … Das große deutsche Vaterland, dass wir ersehnen und erstreben, und sein Wegbereiter das deutsche Lied! Heil! Heil! Heil!!“ …Und die Festschrift endet mit den Worten: „Wie die Wolken des Weihrauchs, so schwebt die Erinnerung an ein hohes Fest im Herzen jedes einzelnen der Pilger…Der Altar aber, um den diese Wolken wallen, ist die Liebe zur deutschen Scholle, ist das hehre heilige Gefühl der Zusammengehörigkeit derer, die deutschen Wesens sind.“ 


So überrascht es in der Folgezeit nicht, dass die Nationalsozialisten im Sängermilieu eine Stütze finden konnten – betonen will ich aber ausdrücklich, dass von den radikalnationalistischen Zukunftsplänen der NS-Führung kaum etwas bis zu den Sängern durchgedrungen sein dürfte, denn Welteroberungsphantasien und Rassenwahn waren ihnen fremd. So wurden - kurz, vielleicht zu kurz formuliert - die Vereine und ihre Mitglieder in vielfältiger Weise zu Opfern der NS-Herrschaft und des Krieges. 


Das Ende des zweiten Weltkriegs markierte einen Einschnitt, der in der Vereinschronik – wie auch schon das Vereinsleben in der NS-Zeit - nur dürftig beschrieben wird. Man gewinnt den Eindruck, dass der Verein 1945 einfach weitermacht – wie in allen Jahrzehnten vorher und anlässlich der 90-Jahrfeier im Juli 1955 lobt Oberbürgermeister Dr. Mix im Geleitwort die „Verdienste für das deutsche Lied“ – als hätte die nationale Ausrichtung keinen Schaden angerichtet. Auch der Vereinsvorsitzende Karl Geist ruft in der Festschrift zum 90jährigen Jubiläum zu einem flammenden Bekenntnis „unserer „immerwährenden Liebe und Treue“ zum „Deutschen Lied“ und zur Heimat als Allgemeingut unseres Volkes auf.  


Ich weiß, so hat man damals gesprochen, aber dies zeigt doch uns Heutigen, wie wenig Reflexion über Fragen der Kontinuität und des notwendigen Bruchs mit Traditionen und Sprache als Kulturgütern geübt wurde. (Man lese hierzu Viktor Klemperers (Bruder des bekannten Dirigenten Otto Klemperer, bis 1933 Professor für französische Sprache in Dresden) Erinnerungen als Bewohner eines Judenhauses in Dresden und vor allem sein Buch Lingua tertii imperii – über die Sprache des dritten Reichs.) 


Ich will an dieser Stelle aber auch mitteilen, dass in diesen Jahren der Verein  – „in bewährter Weise“  - das sage ich mit einem etwas mokanten Unterton – mit besten Plätzen bei Wertungssingen, einem vielfältigen Konzertprogramm nicht nur in Sonnenberg, Einladungen von und zu zahlreichen Freundschaftssingen und anderen Vereinsfesten wie auch beim neu gegründeten Deutschen Sängerbund glänzt und 1953 sogar ein eigener Knabenchor ins Leben gerufen wird.  


Aber mit einem einfachen „Weiter so!“ ist doch die Zukunft des Männergesangvereins nicht zu gewinnen: 


Ab Mitte der 50er Jahre, dynamisch zunehmend ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre geht es mit der Sängerzahl schwer bergab. Kein Wunder – denn die Begeisterung der jungen Generation für die anglo-amerikanische Rock`n-Roll-, Beat- und Popkultur ließ die Männerchöre altbacken, steif, ja geradezu lächerlich erscheinen. Der vaterländische Geist, den viele Ältere nach wie vor pflegen, wird von den Jungen kritisiert, die Fragen, die im Zuge der 68er-Bewegung nicht nur von Studenten gestellt werden, stoßen – wie überall - auf hartnäckiges Schweigen und Missmut. 


Waren die Männergesangvereine ursprünglich Träger einer bürgerlichen Freiheitsbewegung, so erschienen sie den Jungen nun als Stützen einer moralisch völlig diskreditierten Politikbewegung. Die älteren Sänger berauschen sich mit ihren Erinnerungen an glanzvolle Sängerzeiten und legen eine hohe Genügsamkeit an den Tag, was die Gestaltung der Jetztzeit anbetrifft. Der Verein verliert Mitglieder und gewinnt ab Mitte der 70er Jahre keine neuen hinzu. Es war rechnerisch absehbar, wann er zu Grabe getragen werden würde. 


Was also tun?


Hier kommt die neue Generation zu Hilfe: Mit Klaus Ochs wird 1974 ein außergewöhnlich musikalischer Chorleiter, ein hervorragender Musikpädagoge verpflichtet - und der Erfolg stellt sich langsam ein. 


Ein junger, gut gebildeter Vorstand bedient sich des eigenen Know-hows, erworben in verschiedenen Berufsfeldern, umgesetzt nun für den Verein in ein sicheres und flexibles modernes „Kulturmanagement“ (damals kannte das Wort noch niemand!), ausgestattet mit einem Talent zu allen Formen der Stärkung von Public Relations – von dem wir heute Abend ja auch profitieren.  


Neue junge Sänger machen mit, das Repertoire wird modernisiert - ohne auf musikalische Tradition zu verzichten. 


Eine musikalische Bestandsaufnahme des sängerischen Vermögens der einzelnen Sänger wird vereinbart – und durchgeführt. Mancher muss schmerzlich und sicherlich auch ärgerlich erkennen, dass er als förderndes Mitglied den Verein besser unterstützen kann. 


Der Verein macht sich Schritt für Schritt mit Konzertreisen in Partnerstädte z.B. Ljubljana und Klagenfurt einen Namen und ist Gastgeber für Chöre aus diesen Städten sowie aus Israel und Spanien. 


Die internationalen Chorreisen sollte man sich nicht als schöne Ausflüge, Urlaub besonderer Art vorstellen, denn sie verlangen den Sängern finanziell, künstlerisch und menschlich-politisch einiges ab: Die Sänger werden mit Musikhaltungen und Deutschlandbildern konfrontiert, die auch die eigene Werte in Frage stellt und verändert. 


Aber genau dafür, Wege zur Völkerverständigung und zur eigenen Weiterentwicklung zu suchen, begeistern sich die Sänger und ihre Familien, die bei der Gelegenheit auch mal erwähnt werden müssen.        


Nicht nur, aber auch in diesem internationalen Kontext wird der Name des Gesangvereins „Gemütlichkeit“ zur Belastung, denn er referiert auf eine politische Traditionslinie, die zu Recht oder Unrecht in den Augen vieler, die die Geschichte im groben Raster betrachten, diskreditiert ist. Es dauert allerdings Jahre, bis endlich 1987 die Namensänderung zu "Männerkammerchor Wiesbaden-Sonnenberg e.V." vollzogen wird. 


Der letzte Anstoß, der dazu führte, war das schockierende Erlebnis, dass aufgrund des Namens bei einer Konzertreise nach Israel dem Sonnenberger Chor 1986 bei der 14. Welt-Chorbegegnung „Zimriya“ – ausgerichtet von der von uns allen geliebten Ilana Barnea (Gott hab sie selig!)  -  auf dem Berg Zion bei Jerusalem durch den deutschstämmigen Prior der Auftritt verweigert wurde. Der Chor war übrigens – auch das ist interessant zu wissen - in der Tat der bisher erste herkömmliche deutsche Männerchor in Israel, in dessen Reihen seinerzeit auch noch Weltkriegs-II-Teilnehmer standen.  


Also: Eine schwierige Zeit für diejenigen, die den Verein bewegen und in die Zukunft führen wollen. Das alles geschieht ja nicht emotionslos - ganz im Gegenteil - es fliegen die Fetzen, Intrigen werden geschmiedet, Gerüchte verbreitet, heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen geführt. Die Chronik zum 125jährigen Bestehen weiß davon ausführlich zu berichten. 


Aber: nur im Streit, im Konflikt entsteht ja Neues. Es kommt darauf an, wie fair und umsichtig man einen Konflikt bearbeitet. Ich habe vor einigen Jahren eine Mediatoren-Ausbildung an unserer VHS absolviert. Seither sehe ich im Konflikt nicht den Gegner, sondern den Partner im Ringen um Veränderung. Das ist niemals ein Leichtes, aber doch so notwendig, um Akteur, Gestalter und nicht Opfer der Geschichte zu sein. 


Es wäre so vieles zu erwähnen – hier nur noch ein paar Informationen, die ich wichtig finde:  


1985 richtet der Chor eine erste große internationale Chorbegegnung in Wiesbaden aus. 1990 folgt die zweite, und fortan ist man Gast auf zahlreichen Bühnen der Welt sowie auch Gastgeber für Chöre aus der ganzen Welt. 1990 wird errechnet, dass die Sänger und ihre Familien aus eigener Tasche 400.000 DM für diesen Kulturaustausch investiert haben. 


1988 kann der Sonnenberger Verein im stadtteileigenen Konzertsaal auftreten, auch die räumliche Infrastruktur gehört zum Gelingen in der Kultur. 


1990 darf ich als Kulturdezernentin zum 125jährigen Jubiläum die goldene Stadtplakette überreichen. 


1993 erhält der Chor folgerichtig den Kulturpreis der Stadt Wiesbaden – nicht zuletzt für (damals schon) Kontakte zu 60 Solisten und Ensembles in 16 Nationen. 


1995: der so geschätzte und wichtige Klaus Ochs stirbt ganz unerwartet. Eine tragische Nachricht – auch für mich. 


Der Verein gewinnt mit Holger Wittgen, dem wir auch das musikalische Profil des heutigen Abends verdanken, einen neuen außergewöhnlichen Chorleiter, der die Geschicke der musikalischen Entwicklung bis heute überzeugend lenkt und neue, moderne Formate entwickelt, die beispielhaft in die Chorszene hineinwirken können. Ein Kulturmanager, der den Vorsitzenden und den Vorstand an seiner Seite weiß und mit ihm gemeinsam seit nunmehr 20 Jahren das Kulturprogramm gestaltet.   


Aber die Zeitreise ist noch nicht zu Ende. Die vorläufig letzte Wendung ist die nun auch förmlich besiegelte Zusammenarbeit mit arSoni Wiesbaden, dem Vokalensemble für Hohe Stimmen und eine nicht minder spektakuläre Änderung der Vereinssatzung: Neu ist der Satzungsrang für kulturelle Bildung unter fachkundiger Anleitung bei regelmäßigen Proben. Da ist sie noch, nun im modernen Gewand: Die Singfähigkeit, die schon vor 150 Jahren als Basis des Chores gefordert wurde. 


Für mich ist interessant festzustellen: Nicht die politische Ausrichtung des Vereins, sondern die künstlerische Qualität ist es, die der Garant für ein zukunftsfähiges Bestehen war und ist. 

Wir haben hier keine Zeit, dies als kulturpolitische These zu diskutieren, aber die Frage möchte ich stellen, ob wir nicht heute dabei sind, diesen Maßstab zu ignorieren, wenn nicht die Kunst, sondern Publikumsresonanz und Event-Charakter zu Erfolgsparametern von Kulturarbeit werden.      


An dieser Stelle möchte ich nun den Vorsitzenden Holger Schlosser nennen. Was hat der Chor mit ihm für einen großartigen Vorsitzenden:   verständig, engagiert, weitsichtig, konfliktfähig (und das bedeutet für mich sehr viel!), ja man kann sagen mit allen Tugenden des Mannhaften, wie man sie sich im 19. Jh. vorstellte, - ich wiederhole - Treue, Gemeinschaftssinn, Pflichtbewusstsein, Opfersinn, Fleiß, Ehrlichkeit, Leistungsdenken, Tatkraft und Natürlichkeit- ausgestattet.


Auch wenn er sich in seinen Texten und Veröffentlichungen immer wieder für sein vieles Schreiben und Argumentieren fast entschuldigt, ist das Erreichte doch wohl auch ganz sicher eben dieser Überzeugungsbereitschaft, weitsichtigen Argumentationen und dem erkennbaren Willen, die Vereinsmitglieder und die Öffentlichkeit an den ehrlichen Gründen für Entscheidungen teilhaben zu lassen, zu verdanken. Mut zur Transparenz könnte man diese moderne mannhafte Tugend nennen. 


Und den Vorsitz hat Herr Schlosser nun schon 34 Jahre inne (von 2000 bis 2010 als Zweiter Vorsitzender). Das ist ein Fünftel der 150 Jahre Vereinsgeschichte. Was für eine Leistung. Das sind schon jetzt große Fußstapfen, die Sie in der Vereinsgeschichte hinterlassen haben.    

 

Ich komme zum Ende: 


Ich gratuliere dem Chor und seinem Vorstand sowie dem Chorleiter zu einer Vereinsgeschichte, die bis heute von einem starken Bedürfnis nach moralisch überzeugender und zukunftsträchtiger Gemeinschaftlichkeit getragen wird. 


Ich bin bei meinem Spaziergang auf dem heutigen Gipfel angekommen und sehe die Weite und die Vielfalt der Berge und Täler, die von den Sängern durchwandert wurden und die alten und neuen Aussichten einer ungewöhnlich interessanten Vereinsgeschichte, die in diesem Jubiläumsjahr noch erfreulich ausführlich genossen werden kann. 


Ich habe noch einen Auftrag zu erledigen: Heute Nachmittag rief Achim Exner, bei mir an und bat mich, Ihnen seine herzlichen Grüße und Glückwünsche auszurichten. Das tue ich hiermit gerne.  


Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit. 




 




 





 




 

 





150 Jahre engagierte Kulturarbeit

von Holger Schlosser


Der Deutsche Chorverband (gegründet 1862 als Deutscher Sängerbund), unter dessen Dach mehr als 21.000 Chöre verschiedenster Prägung zusammengeschlossen sind, hatte 2012 seine Jubiläumsfeierlichkeiten unter das Motto "Vom Freiheitskampf zur Freizeitbeschäftigung" gestellt. Der Männer-Kammerchor Sonnenberg (gegründet 1865 als Gesangverein Gemütlichkeit) kann 2015 auf eine 150jährige Historie zurückblicken. Die heute spießig anmutende Namenswahl der Gründer erklärt sich aus der damaligen politischen Großwetterlage. Man erinnere sich an Kampf um demokratische Rechte und nationale Einheit, um Volksbildung und Teilhabe an Kunst und Kultur, an polizeiliche Überwachung und Vereinsverbote, an Kerkerhaft und Verbannung.


Die sich dennoch zu Turn-, Gesang- und Bildungsvereinen zusammenschließende Bürgerschaft war republikanisch gesinnt und politisierte zum Missfallen blaublütiger Obrigkeiten in Hinterzimmern. Im Kampf um Bürger- und Freiheitsrechte agierte man standesübergreifend, überkonfessionell und überparteilich. Gesangvereine verschleierten ihr Aufbegehren gegen Fürstenwillkür und Kleinstaaterei gerne mit verharmlosenden Namensgebungen wie z.B. Heiterkeit, Frohsinn, Liederblüte oder auch Gemütlichkeit.


Mit der Reichsgründung 1871 veränderte sich die politische und gesellschaftliche Landschaft grundlegend. Gesangvereine gaben sich fortan staatstragend, neigten zu ideologischer und klassenbewusster Abgrenzung. Die sozialdemokratisch geprägten Arbeitergesangvereine spielten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine gesamtgesellschaftlich bedeutsame Rolle.

Schon hochbetagt erinnerte Baumeister Philipp Schmidt - 1861 Gründer der Turngemeinde und vier Jahre später auch des Gesangvereins Gemütlichkeit Sonnenberg gewesen - an gemeinsame Ursprünge, als er am 23. November 1928 die denkwürdigen Zeilen schrieb:

"Die um freiheitliche, nach Einheit ringende Volksbewegung im Deutschen Vaterlande, beginnend um das Jahr 60 des vorigen Jahrhunderts nach dem niedergeschlagenen Freiheitsjahr 1848, weckte auch unter der Sonnenberger Männerwelt bis zur schulentlassenen Jugend die Sehnsucht nach freiheitlicher Betätigung und Zusammenschluss der Menschen und Völker."

Die Frage, ob die Gründung des Gesangvereins Gemütlichkeit Sonnenberg vom 50. Jahrestag der Schlacht von  Waterloo - dem endgültigen Sieg über Napoleon - inspiriert war, wie z.B. das erste Deutsche Sängerfest 1865 in Dresden, lässt sich anhand der lückenlos erhaltenen Protokolle nicht zuverlässig beantworten, steht aber zu vermuten. Man tat seinerzeit gut daran, seine politischen Tendenzen nicht schriftlich niederzulegen.


Ungeachtet dessen feierte man schon im Herbst 1865 erste Bühnenerfolge, hatte daraufhin enormen Zulauf und zählte mit seinen konstant um die 100 auf Eignung geprüften, gut geschulten Sängern vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960ziger Jahre zu den besten Amateurchören im Lande. Diese Kontinuität garantierten Chormeister Hermann Stillger von 1902 bis 1939 und der väterliche Freund und Nachbar des Verfassers Chordirektor Hans Reinhardt ab 1946.   

Die Präsidien des Deutschen Sängerbundes wussten das zu schätzen, indem sie unsere Vorgänger wiederholt bei repräsentativen Anlässen um musikalische Beiträge baten. So z.B. auch 1951 um die Gestaltung eines abendfüllenden Konzertes im Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Mit einer Hommage an das Schaffen des 1949 im englischen Exil verstorbenen ungarischen Komponisten Erwin Lendvai begrüßte der MGV Gemütlichkeit Sonnenberg unter  der Leitung von Hans Reinhardt die Delegierten des ersten DSB-Bundesfestes nach dem Krieg.


Sich dieses wertvollen Erbes sehr wohl bewusst, haben Chordirektor Klaus Ochs (1974 - 1995) und der Verfasser zu Beginn der 1980ziger Jahre zielstrebig Kontakte zu Menschen in Nationen geknüpft, denen in den dunkelsten Jahren deutscher Geschichte unsägliches Leid zugefügt worden war. Mitgetragen von den Sängern, deren Familien, befreundeten Organisationen und privaten Gastgerbern im gesamten Stadtgebiet wurden in rascher Folge Begegnungen und Austauschprogramme diesseits und jenseits des "Eisernen Vorhangs" initiiert.


Nach Auslandserfahrungen in den Partnerstädten Klagenfurt und Ljubljana konzipierte der MGV Gemütlichkeit eine hochkarätig besetzte "I. Internationale Chorbegegnung Wiesbaden 1985". Zusätzliche Unterstützung fand man beim Deutschen Musikrat, den städtischen Körperschaften, dem Hessischen Rundfunk und der Nassauischen Sparkasse. Mit dieser von der Presse als kulturelles Ereignis für Wiesbaden bezeichneten Großveranstaltung hatte der MGV Gemütlichkeit Sonnenberg den Wiederaufstieg in die "Amateur-Oberliga" geschafft und zugleich die Aufmerksamkeit weltweit vernetzter Fachleute auf sich lenken können.


Der Verfasser spricht ganz bewusst von Wiederaufstieg. Wie sich Zeitzeugen erinnern werden, waren die späten 1960ziger und dann auch die gesamten 1970ziger Jahre von einer musikalischen Schwächephase des MGV Gemütlichkeit gekennzeichnet. Theorien und Mutmaßungen über die Ursachen von Aufstieg und Fall gab und gibt es noch immer zuhauf. Kaum eine dieser Deutungen trifft den Nagel auf den Kopf.


Wegen des noch heute exemplarischen Wertes besagter Wende zum Besseren, möchte der Verfasser in der gebotenen Kürze wie folgt rekapitulieren: In den ersten einhundert Jahren oblag die Entscheidung über die Aufnahme eines Neulings in den Chor des MGV Gemütlichkeit satzungsgemäß den Dirigenten. Man war unabhängig von Zahl und Lebensalter der Sänger erfolgreich.

Fixiert auf hohe Sängerzahlen, wurden in den Folgejahren den Dirigenten besagte Entscheidungen aus der Hand und gravierende Intonationsschwächen bei Neulingen stillschweigend in Kauf genommen, individuelle Gehörbildung wurde nicht angeboten.


Bei objektiver Betrachtung war diese in vielen Traditionsvereinen eingerissene Weichenstellung in mehrfacher Hinsicht der Anfang vom Ende. Sie untergrub die Autorität der Dirigenten, leitete erdrutschartigen Leistungsabfall ein und war zudem schäbig gegenüber falsch intonierenden Sängerinnen und Sängern, die - in dem guten Glauben gelassen, unverzichtbare musikalische Stützen ihrer Chöre zu sein - über Jahre hinweg Zeit, Geld, Arbeitskraft und Herzblut opferten.  


Diese drei Knackpunkte wurden im Herbst 1983 beim MGV Gemütlichkeit Sonnenberg auf die Tagesordnung gesetzt. Nach erhellender und dann auch selbstkritischer Aussprache legten Sänger mit und ohne Gold in der Kehle in großer Einmütigkeit und Demut die Verantwortung für musikalische Qualitätssicherung vertrauensvoll in die Hände des Dirigenten zurück und folgten dessen fachmännischen Empfehlungen. Man war unabhängig von Zahl und Lebensalter der Sänger wieder erfolgreich.


Zweifel an Notwendigkeit und Zielrichtung dieser kollektiven Rückbesinnung verboten sich schon deshalb, weil problembewusste Sänger vom damaligen Präsidenten des Hessischen und späteren Präsidenten des Deutschen Sängerbundes Alfred Engelmann (Schulamtsdirektor in Wiesbaden und Kenner der Gegebenheiten im MGV Gemütlichkeit) beraten und bestärkt worden waren. Was auch vor und nach 1983 in den Monatsschriften der genannten Dachverbände zu lesen war.  

Angesichts des spektakulären Wiederaufstiegs des MGV Gemütlichkeit Sonnenberg riefen leidgeprüfte Chorleiter "Hosianna", sich bloßgestellt fühlende Vereinsaktivisten in der gesamten Region "Kreuziget ihn!"


So war es nur konsequent, dass Präsident Engelmann die Festrede hielt, als dem seit 1987 unter "Männer-Kammerchor" firmierenden Ensemble 1993 der Kulturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden verliehen wurde. Engelmann sprach von einer nicht alltäglichen Erfolgsgeschichte und resümierte: Dieser Preisträger setzt über unsere Landesgrenzen hinaus kulturelle Wertmaßstäbe, dessen Beispiel empfehle ich vom Bodensee bis zum Nordseestrand zur Nachahmung!"


Nicht alltägliche Erfolgsgeschichte meint, dass der Preisträger im Zehnjahreszeitraum 1983 bis 1993 zunächst Chöre aus Österreich, Slowenien, Israel und Spanien zu Gast hatte. Schon vor dem Mauerfall im November 1989 zudem Solisten und Ensembles aus den Sowjetrepubliken Russland, Litauen, Georgien und Armenien.


Besuche unter erschwerten Bedingungen, denn Reisen zum Klassenfeind in den Westen waren stets von moskautreuen Aufpassern begleitet. Balten und Kaukasiern war das Singen ihrer nationalen Lieder unter Strafandrohung verboten. Die politische Brisanz solcher Verbote versteht umso besser, wer sich vor Augen hält, dass 1989 drei Millionen Balten über Republikgrenzen hinweg singende Menschenketten bildeten und bei Massensingen mit bis zu 300.000 Teilnehmern zivilen Ungehorsam leisteten und so dem Kreml letztendlich ihre nationale Selbstständigkeit abtrotzten.


Nach dem Mauerfall gastierten beim Männer-Kammerchor Sonnenberg weitere Spitzenensembles aus Polen, Lettland, Estland, Bulgarien, Spanien, Slowenien, Armenien, Russland, Tschechien, Italien, Ungarn, Österreich, Litauen, Argentinien, Schweden und aus den USA. Eindrücke von der Qualität vieler dieser Gastensembles kann man sich durch Besuche auf deren Internetseiten und den dortigen Hörproben machen. Hier nur zwei Beispiele:  Der litauische Chor "Jauna Muzika"   - www.jaunamuzika.lt/ - gastierte 1995 im Kaisersaal Sonnenberg, "Orphei Drängar" aus dem schwedischen Uppsala - www.od.se - gastierte 2002 im Rahmen der Konzertreihe "vocal/abo" des Männer-Kammerchores im Kurhaus Wiesbaden.


Der Männer-Kammerchor folgte seither Einladungen zu Gastspielen nach Österreich, Slowenien, Israel, Tschechien, Polen, Ungarn, Belgien, Kroatien, Italien und zuletzt im Oktober 2014 in die türkische Kulturhauptstadt Istanbul.

Vor und nach dem weltbewegenden Schicksalsjahr 1989 kam es im Verlauf und am Rande solcher Begegnungen oftmals zu spontanen Szenen, Gesten und Reaktionen, die wahrlich unter die Haut gingen.

Als sich die Israelis im Oktober 1985 von ihren privaten Gastgebern mit den Worten verabschiedeten: "Ihr habt in nur vier Tagen unser Deutschlandbild verändert!"

Als im Herbst 1988 ein Sänger auf der Fahrt nach Breslau von den heutigen Bewohnern seines Elternhauses eingeladen und bewirtet wurde. Gastgeber, die als späte Folge des Hitler-Stalin-Paktes nach Kriegsende von Ostpolen nach Niederschlesien umgesiedelt und in die Häuser vertriebener Deutscher eingewiesen worden, also ebenfalls Heimatvertriebene waren.


Als der Männer-Kammerchor 1989 vier Tage nach der Verurteilung des tschechischen Regimekritikers Vaclav Havel wegen Rowdytums im vollbesetzten Smetana-Saal in Prag in Abweichung vom ausgedruckten Programm eine von Bedrich Smetana komponierte heimliche Hymne der Tschechen sang.


Stehende Ovationen! Ein sichtbar um Fassung ringender einheimischer Chorleiter sagte später: "So klangschön und zudem akzentfrei hatte ich unser geliebtes Veno von Menschen fremder Zunge bisher nicht gehört, der genius loci hatte auch mich übermannt!"  Als der Männer-Kammerchor Sonnenberg im Folgejahr auf Einladung der Symphonischen Gesellschaft an den "Prager Festwochen" teilnahm, hieß der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel.

Als Mitglieder des armenischen Staatsopernchores Jerewan bei ihrem Erstbesuch im November 1989, von der Eilnachricht über die Maueröffnung elektrisiert auf der Rathaustreppe in Wiesbaden spontan das Deutschlandlied und zum Missfallen ihres Aufpassers auch die armenische Hymne sangen.

Als der "Rybin-Chor Moskau" seinen Beitrag zum Abschlusskonzert der "II. Internationalen Chorbegegnung Wiesbaden 1990" mit den Worten ankündigte: "In einer Zeit, in der die ganze Welt auf die Veränderungen in unseren Ländern schaut, singen wir zum Gedenken an die Opfer der traurigen Vergangenheit unserer Völker!".


Auch bei weniger spektakulären Anlassen durfte man auf den Männer-Kammerchor zählen. So gab der nach 1983 vor Ort in Sonnenberg Benefizkonzerte zugunsten krebskranker Kinder, der Erdbebenopfer in Armenien, der Russlandhilfe des DRK, der Orgelrenovierung in Herz-Jesu und der Renovierung der Talkirche. Der örtliche Förderkreis für Alten- und Krankenbetreuung war am Verkaufserlös der CD "Männerchöre der Romantik" beteiligt. Schließlich steht der Konzertflügel des Chores seit 1998 den Nutzern des Kaisersaales zur Verfügung.

Auch die umstrittene, 1987 im zweiten Anlauf vollzogene Anpassung des Vereinsnamens an die chorische Realität erwies sich in Inland wie im Ausland rasch als Schubverstärker, verdient deshalb rückblickender Betrachtung.

Rezensenten sprachen lange vor unserer Zeit vom "Kammerchor Gemütlichkeit". Das nicht wegen, sondern trotz hoher Sängerzahlen. Worin erfolgsverwöhnte Vorgänger nur das Lob für ihre gediegene Literaturauswahl, für klangliche Transparenz und Homogenität des Chores sahen. Das Fragezeichen der Rezensenten hinter ihrem Vereinsnamen musste sie nicht bekümmern. Der wuchs sich auch erst in den 1980ziger Jahren zum wirklichen Problem aus, als der Chor jenseits heimischer Gemarkungsgrenzen immer und überall gegen dessen Botschaft ansingen musste.


War "geistliche Chormusik" angekündigt, drängte sich den um die historischen Wurzeln der deutschen Chorbewegung nicht wissenden Menschen des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass die Gesangbücher dieses Chores Henkel haben müssten, geradezu auf. Das gipfelte 1986 darin, dass der von der Festivalleitung der 14. Welt-Chorbegegnung "Zimriya" angefragte deutsche Prior des Dominikanerklosters auf dem Berg Zion in Jerusalem musikalische Beiträge eines MGV Gemütlichkeit in seinen heiligen Hallen kategorisch ablehnte.

Dirigent und Sänger trösteten sich damit, dass am gleichen Tage ein von Staatspräsident Chaim Herzog und Bürgermeister Teddy Kollek besuchtes Konzert im Jerusalem Theatre auf dem Programm ihrer achttägigen Israel-Tournee stand. Prof. Paul Wehrle, Delegationsleiter mit Sitz und Stimme im Deutschen Musikrat, sagte zum Abschied: Dirigent und Sänger aus Wiesbaden-Sonnenberg haben den international lädierten Ruf des deutschen Männerchores aufpoliert!" Nicht zuletzt deshalb firmiert man seit 1987 unter dem griffigeren Namen "Männer-Kammerchor".

Bleibt dem Verfasser, noch auf die vor Ort sichtbaren und hörbaren Ergebnisse engagierter Kulturarbeit hinzuweisen, für die seit 1995 Dirigent Holger Wittgen verantwortlich zeichnet. Holger Wittgen (Jahrgang 1968) zählt zu einer Chorleitergeneration, die sich nicht aufs rein Musikalische beschränkt, sondern sich darüber hinaus auf modernes Kulturmanagement versteht und damit sowohl Formen und Inhalte der Jahresprogramme als auch organisatorische Abläufe eines Chores in ganz entscheidendem Maße mitprägt.  

Diesem veränderten Selbstverständnis junger Chorleiter/Innen verdankt der Männer-Kammerchor und damit das heimische Kulturleben kreative Konzertreihen wie "Vocal/Abo", "Sonnenberger Advent", "Maisingen", die Initiierung verschiedener Chorprojekte, Stundenkonzerte in lokalen Seniorenzentren und wechselnde Veranstaltungsformate im Rahmen der örtlichen Kulturtage. Zuletzt im Juni 2014 zwei hohes Lob findende Gesprächskonzerte "Die Kur des Herrn Geheimrat Goethe" und "Goethe in Wiesbaden-Sonnenberg".

Weitgereiste Chorexperten, Menschen in Politik, Verwaltung, Kulturstiftungen und Medien sehen und anerkennen in all dem das linientreue Anknüpfen an die wertbeständigen Traditionen fünf vorangegangener Sängergenerationen, sehen und anerkennen unvermindertes Streben nach Zusammenschluss der Menschen und Völker, sehen und anerkennen die zahlreichen Impulse, die das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Sonnenberg, Wiesbaden-Stadt,  der Region und dann auch über die Landesgrenzen hinaus in den zurückliegenden 150 Jahren erfahren hat und mit der wohlwollenden Unterstützung weltoffener Musikfreunde weiterhin erfahren soll.


Fazit des Verfassers: Der Männer-Kammerchor schreibt seine 150jährige Historie fort, verbindet in seinem Wesen und Wirken weiterhin das Herkömmliche mit dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen.




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